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Erfahrungen

Wie geht Stabilisierung in täglicher Konfrontationsarbeit?

  • Blog Teaser: Ich schreibe, um zu heilen. Tagebucheintrag aus meiner Schreibtherapie zum Thema "Glaube, Kultur und Schlüssel zum Erfolg"

Caro's Welt

Als wir heute im Gottesdienst waren, ging es um den Vergleich von Jesus als Weinstock. Dass es in der Kirche oft um Wein geht, daran haben sich meine Jungs schon gewöhnt und sie können das gut abstrahieren. Der Pfarrer freute sich heute so sehr über die Anwesenheit von Kommunionskindern, dass er meine Söhne aktiv in seine Lesung einbezog. Er kam mit dem Kelch Wein auf uns zu und ließ uns alle drei daran riechen. Es war nicht unser Gemeindepfarrer, der kennt nämlich unsere private und berufliche Mission und hätte uns deswegen vermutlich anders einbezogen. Jedenfalls fragte er Anton und Leo dann was das ist und wies sie darauf hin, dass sie das ja noch nicht trinken dürften. Er meinte es wirklich gut und gleichzeitig hatte er eben keine Ahnung was in mir vor ging, warum mir heiß und kalt wurde und ich sehr stark in einen inneren Dialog mit mir eintreten musste. Ich habe es dann geschafft ruhig zu bleiben und bin mit den Kindern nach dem Gottesdienst die Situation und Geschichte nochmal in Ruhe durchgegangen. Was dem Pfarrer glaube ich nicht bewusst war, ist wie ungünstig sich solche Aktionen auf die Wahrnehmung von Alkohol bei Kinder auswirken kann, unabhängig davon welche Einstellung ihre Eltern jeweils zu Alkohol haben. Du bekommst als Kind etwas ganz besonderes - fast heiliges unter die Nase gehalten. Dann wird es Dir wieder weggezogen mit dem Hinweis, dass wenn Du erwachsen und ein Teil dieser Gemeinschaft bist, in den ehrwürdigen Genuss des "Blutes Christi" gerätst... Auch thematisierte der Pfarrer die Spannungen in der Kirche und ihre Herausforderungen für unsere Gesellschaft flexibel genug zu bleiben ohne alte Regeln und Rituale aufzugeben. Es bleibt ein Weg des offenen Dialogs, egal worum es geht. Darin kann ich ihn bekräftigen und schloß für mich friedlich den Gottesdienst ab. Dennoch arbeiten solche Situationen immer lange in mir nach. 

Ich bin evangelisch getaufte Christin und nicht aus der Kirche ausgetreten. Bis heute von klein auf hat mich mein Glaube getragen und ich spüre wie sehr ihn auch meine Kinder tragen. Katholisch sind sie, weil sie in Köln das Licht der Welt erblickten. Ohne meine damalige Liebe in und zu Köln gäbe es diese göttlichen Kinder nicht. Alleine deswegen und aus Liebe zu meinen Kindern habe ich zumindest mit diesem Trennungstrauma meinen Frieden finden können. Köln werde ich immer in meinem Herzen tragen - auch ich bin ein kleines Weinträubchen, was aber eben nicht mehr gekeltert werden möchte. 

Manch ein Mensch könnte sich fragen, warum ich täglich über mich und Alkohol schreibe und wie zielführend das für meine langfristige Genesung sein mag? "Caro, Du bist doch mehr als..." irgendeine Assoziation zu meinen unzähligen Alkoholerfahrungen? Natürlich bin ich das. Ich beschäftige mich im Alltag auch viel mit anderen Themen und Freuden in meinem alkoholfreien Leben. Im Außen, da habe ich mich dem Thema allerdings sozusagen "verschrieben" und setze meiner Mitteilungsbedürftigkeit dazu bewusst keine Grenzen mehr. Was raus muss, muss raus. Wenn es raus ist, hat es wenigstens eine Chance, irgendwo zu wirken und quält sich nicht länger in den Grenzen meiner Gedankenwelt. Schreiben war schon immer ein sehr wohltuender Kanal für mich. Und wisst ihr was? Gerti hat auch unglaublich viel und gerne geschrieben. Leider zu selten nüchtern.

Kürzlich riet uns ein erfahrener Berater, der sich ein Leben lang in der Suchthilfe engagierte und bald in Rente geht: "Macht weiter, gebt nicht auf und seht Euch wie Bauern, die Samen sähen. Erwartet keine reichhaltige Ernte, aber vertraut auf die Früchte, die ihr nicht direkt erkennen könnt." Ein bisschen Jesus-Mentalität vielleicht? Als selbst ernannte Heilsbringer*in oder Erlöser*in, die mit ihrer Kommunikation Menschen eines ihrer liebsten Kulturgüter und Genussmomente madig macht, zöge ich als potentielle Messianin nicht unbedingt massenhaft Sympathie und Verständnis für meine Mission auf mich. 

Was möchte ich also eigentlich erreichen und warum schreibe ich jeden Tag schon fast fanatisch über Alkohol? 

Also als aller Erstes möchte ich für meine Kinder eine mentale Stabilität finden. Das ist wie in dem Beispiel mit einem abstürzenden Flugzeug. Immer erst sich selbst helfen. Gefühlt stürzen wir in der medialen Öffentlichkeit seit der Pandemie immer mehr in Hass, Spaltung und Trostlosigkeit als Gesellschaft ab und dabei gilt es als Mutter in dem Wahnsinn nicht den Verstand zu verlieren und meinen Kindern Mut, Vertrauen und Zuversicht für ihr Leben und ihre Zukunft zu vermitteln. Am liebsten würde ich auch täglich schreien, für das Klima gegen Rassismus oder für Kinderrechte und so viele weitere soziale Misstände demonstrieren. Ich musste eine Entscheidung treffen und einen Fokus für mich setzen, der das Gedankenkarussel in meinem Gehirn nicht in Dauerschleife ohne Suchtmittelmissbrauch abdrehen lässt: Weiter wie bisher war also aus vielerlei Gründen keine Alternative. Das schien lange unter verdeckten Qualen als bequem und finanziell sicherer, was ich gesundheitlich einfach nicht mehr aushielt. Irgendwie so wie gewohnt klarkommen, nicht so anstellen und in sicheren liebevoll fürsorgenden Gefilden nebenbei mitschwimmen? Einfach vergessen, Schwamm drüber? Immer weiter swipen bei der xten Beweihräucherung für gesundheitlich oder sozial fragwürdige Kommunikationslösungen im world wide web? Wie würden meine präpupertierenden Jungs mittlerweile sagen?

"Öhm... nope, sorry Digga"

In die öffentliche Konfrontation gehe ich deswegen nur noch bei richtig schlimmen Fehltritten wie der Weihnachtskampagne von Burger King. Um alle anderen Aktionen darf sich gerne Cem Özdemir kümmern. Denn es ist natürlich meine Pflicht, mich aktiv für meine gesundheitliche Genesung einzusetzen und mich nicht kontraproduktiv und selbstzerstörend zu verhalten. 

Was mir in 42 Jahren Leben mit Alkohol bis Sommer 2022 widerfahren ist, kann ich allerdings nicht mit einem kurzen LinkedIn-Outing und dann "Leben wie bisher" ver- und aufarbeiten. Ich kann das nicht und ich will es nicht. Ich bin ein Mensch mit wenig Mittelmaß, dafür mit viel Leidenschaft. Was Leiden schafft, dazu habe ich schon viel in meinem Social Media-Therapiebecken aufgearbeitet. LinkedIn wurde nüchtern für mich wie für viele andere verlorene oder erwachte Business-Seelen auf dem Weg zur Neufindung so ein bisschen offene Therapiestunde zum lernen, aufgeilen, mit- oder abschreiben. Schreiben hilft mir einfach wirklich und seitdem kein Mensch mehr so sicher weiß, was die Erfolgsformel der Zukunft ist, scheint wieder alles möglich.

Nicht existente Marktwerte können von heute auf morgen plötzlich durch penetrante Selbstdarstellung an politischer Relevanz gewinnen. Fast täglich findet man im Social Media Versuche durchaus konstruktiver Kompensation von Hilflosigkeit, Wettbewerbsdruck, Einsamkeit oder Ausdruck krankhaft geltungssüchtigem Verhalten für einen aber zumindest guten Zweck? Ich ertappe mich selbst bei allem davon, je nach Tagesverfassung. Nicht jeder Zweck heiligt dort alle Mittel, schon klar. Am Ende des Tages ist mir auch das in der Außenwirkung schon länger egal, was unglaublich frei und manchmal dennoch weiter Angst machen kann. Sicher fühle ich mich noch lange nicht, aber eben etwas freier. 

Schwäche und Authentizität zeigen traute ich mich in den letzten Jahren leider nirgends. Durch diverse Vertrauensbrüche und meinen problematischen Alkoholkonsum stellte ich mich insgeheim selbst zu sehr in Frage, traute niemandem mehr so richtig und baute eine toxische Mauer um mich. Deswegen meine ich auch Til Schweiger fühlen zu können. Was der vermutlich überhaupt nicht will. Von Ex-Alkis verstanden werden wollen empfindet er gerade womöglich als Affront. Reine Mutmaßung natürlich, sorry für die Bewertung und Stigmatisierung, auch ich bin nicht immer frei davon.  

Nun stelle ich also seit Kurzem meine "Schwäche" und mein erfahrenes "Leid" sehr bewusst zur Schau, um im Schreiben und öffentlichen Zurschaustellen belastende Emotionen und negative Gedanken zu verarbeiten und damit gleichzeitig anderen Menschen Denkanstöße anzubieten. Was ich im Alltag immer wieder mit mir aushandeln muss ist die Unsicherheit, die durch meine Ambivalenz aus starkem Selbstbewusstsein und schwachen Selbstwert entsteht. Zum Glück bin ich da gut reflektiert und habe genug vernünftige Menschen um mich, die mich gekonnt einnorden. Heißt nicht, dass ich immer auf sie höre ;-) 

Ich habe in meinem bisherigen Berufsleben meistens dann Applaus oder einen Daumen hoch erhalten, wenn ich authentische Patient*innentagebücher oder Patient*innengeschichten und davon abgeleitete Kommunikationsstrategien sowie Hilfsangebote für andere Erkrankte und deren Angehörige entwickelt hatte. Ja, das habe ich durchaus erfolgreich gemacht und bin stolz darauf, dass ich das kann. Gleichzeitig fragte ich mich oft, wieso ich das eigentlich tat oder fragte mich in letzter Zeit häufig, warum ich das zu einer gewissen Zeit, in der es mir besonders geholfen hätte, nicht tun konnte? Das beste und wichtigste an all den Fragen und Gedanken: ich tue es jetzt endlich für mich und bin den Menschen, die mir diese Kompetenz beigebracht und ausleben haben lassen sehr dankbar. 

Die größten Unsicherheiten, die uns im Umgang mit Sucht begegnen:

  1. Wie erkenne ich, ob jemand ein Konsumproblem hat oder an einer Suchterkrankung leidet und wie verhalte ich mich am besten (in verschiedenen Rollen) unterstützend?
  2. Wie gehe ich mit uneinsichtigen Betroffenen um, alternativ zu einer Trennung und ohne mir selbst im aktiven Umgang zu schaden? 

Zur Beantwortung dieser Fragestellungen komme ich gleich. Zunächst möchte ich mich noch abschließend an meiner exzentrischen Rechtfertigungsstrategie und andauernden Opferrolle abarbeiten:

Eine Zeit lang habe ich nämlich während meiner aktuellen Erkrankung versucht, einfach nicht zu schreiben und das Thema Alkohol außen vor zu lassen und musste leider feststellen, dass das nicht mein Weg sein kann. Unabhängig von meinem persönlichen Umgang mit meiner suchtbedingten Selbstdarstellung komme ich durch keinen Tag, ohne, dass ich mehrfach durch Alkohol angetriggert werde. Das ist so, wenn Mensch in Deutschland und insbesondere in Bayern lebt.Alleine das Beispiel unserer heutigen Glaubenserfahrung bringt das ziemlich deutlich zum Ausdruck. Ich kann mich schlecht gegen unsere Kultur im Alltag komplett verschließen und gleichzeitig meinen Jungs ein annehmbares Leben in ihrem Wohnort ermöglichen. Genauso wenig kann ich mich stabilisieren, wenn ich mich kommunikativ einfach still lege und alles was ich mir in den letzten Jahren unter hohem Leidensdruck und großen privaten Investitionen und familiären Abstrichen alleine aufgebaut habe, einfach riskiere. Es bleibt ein Drahtseilakt. Meine mentale Entwicklung ist mein Business. Irgendwie eine absurde Verquickung, oder? 

Dazu kommt: Ich bin nicht geheilt oder gesund, nur weil ich substanzfrei lebe. Die Symptome meiner posttraumatischen Belastungsstörungen sind da -  täglich seit meiner letzten Verdachtsdiagnose. Und im Umgang mit ihnen hilft es mir nicht, den Mund zu halten und die Tastatur zu schließen. Je länger ich mich mit den gesundheitlichen Risiken von Alkohol, mit Gertis und meinem Suchtleben, der deutschen Kultur und Alkoholpolitik und vor allem der sozialen sowie medizinischen Versorgungsstruktur für suchgefährdete oder suchterkrankte Menschen in Deutschland beschäftige, desto mehr spüre ich, wie richtig und wichtig es ist, dass ich meine kompletten Erfahrungen, Stärken, Schwächen und Lebenszeit genau diesem Thema widme mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln und mit allem, was ich noch in Zukunft an Unterstützung oder mindestens friedlicher und respektvoller Koexistenz von möglichen Entscheidungsträger*innen erwarten darf. 

In der aktuellen Selbsterfahrung und Therapiephase meiner Patientjourney, knapp zwei Jahre nach meinem letzten Schluck Alkohol liegt, womöglich der Schlüssel, wie ich durch die Verarbeitung der traumatischen Krisen meiner Familien maximale Sinnstiftung erfahren, anderen Menschen wirklich helfen und selbst eventuell sogar daran heilen und inneren Frieden finden könnte.

Wir sind der festen Überzeugung, dass wir durch unsere autobiographischen Erfahrungen in Deutschland gekoppelt mit Ableitungen aus aktuellen Entwicklungen der internationalen Wissenschaft, mit Beobachtungen aus der suchtmedizinischen Praxis und dank empirischer Daten aus dem Ausland im Umgang mit Angehörigen und Suchterkrankten neue hilfeiche Impulse gefunden haben, die wir hoffentlich in der zweiten Jahreshälfte werden weiter ausarbeiten können, sobald auch ich wieder richtig aktiv werden kann. 

Unser Ziel ist es weiterhin, Menschen in Deutschland, die mit Personen zu tun haben, die gefährdet sind oder unter Suchterkrankungen leiden, sei es privat oder beruflich, bewusst oder unbewusst, eine neue Art von unterstützender Hilfe anzubieten. Diese Hilfe soll dazu beitragen, das Stigma zu reduzieren und Ressourcen effizient einzusetzen. Durch eine aktive Beteiligung in einem Netzwerk verschiedener Bereiche möchten wir diesen Menschen mehr Sicherheit im Umgang und selbstschützende Handlungsfähigkeit ermöglichen.

Könnte Gerti heute noch leben (wollen), wenn wir meinen Wissensstand von heute damals als Familie gehabt hätten? 

SELBSTSTIGMATISIERUNG HINDERT HILFESUCHE

Wir helfen mit unserer autobiographischen Interpretation des progressiven Modells (Schomerus et al., 2011a) Menschen, die mit suchtgefährdeten oder suchterkrankten Menschen im privaten und beurflichen Umfeld zu tun haben die Mechanismen der Selbststigmatisierung leichter zugänglich zu machen. Dazu bieten wir kommunikative Trainings und praktische Anwendungstipps, wie durch einfache Interaktionen Selbststigmatisierung bei Betroffenen und Mitbetroffenen abgebaut und ihre Hilfebereitschaft gestärkt werden kann.  

MAMAS SCHAM UND SCHULDGEFÜHLE MINDERTEN IHREN SELBSTWERT UND DAMIT IHRE BEREITSCHAFT ZUR HILFESUCHE (GLEICHER MECHANISMUS WIE BEI MIR SELBST EINE GENERATION SPÄTER) 

Mama war ein Trennungskind der 1960er Jahre und ein Kind aus einer suchtbelasteten Familie. Die Spielsucht ihres Vaters Georg, der wiederum als Kind in der Kriegszeit in einem angespannten Familiensystem aufwuchs und mutmaßlich außerfamiliär Missbrauchserfahrungen erlebte, ruinierte nicht nur beinahe ihre Kindheit, sondern auch die finanzielle Existenz weiterer Familien und Kinder. Meine Oma Leni hatte damals keine andere Möglichkeit, als sich von ihrem suchterkrankten Mann  zu trennen, um sich und ihre kleine Gertrud zu schützen. Als Georg in den 1980er Jahren an Krebs litt, nahm er wieder Kontakt zu seiner Tochter Gerti, meiner Mama auf und beide versuchten in 1,5 Jahren intensiver Pflege, Sterbebegleitung und liebevoller Zuneigung ihr verpasstes Leben aufzuholen. Als ihr Vater starb, war meine Mama emotional und psychisch völlig am Ende und bereits mit Ende 20 stark alkoholabhängig. 

BIER UND WEIN GEHÖREN ZU BAYERN WIE DAS AMEN IN DER KIRCHE  

Wir helfen in der Suchtprävention mit der Darstellung unserer omnyversen Rollenerfahrungen den sozialen und kulturellen Stellenwert von Alkohol in allen Gesellschaftsbereichen abzubauen, sowie über die gesundheitlichen Risiken (bei bereits geringem oder "verantwortungsvollem" Konsum) und sozialen Schäden des Suchtmittels Alkohol über Generationen hinweg aufzuklären. 

In den 1980er Jahren sprach kaum ein Mensch offen über Suchterkrankungen. Sozialpsychologische Herausforderungen sowie therapeutische Ansätze bei Selbststigmatisierung oder mangelndem Selbstwert waren unserer Familie nicht zugänglich. Alkohol ist in Bayern Identifikation, wichtiger Bestandteil unserer Kultur und sozialen Lebens, ein Lieblingselixier für Zugehörigkeitsstiftung sowie Wirtschaftsfaktor. Das staatliche Hofbräuhaus mit seinem berühmt berüchtigten und medienwirksamen Starkbieranstich ist ein Wirtschaftsunternehmen des Freistaat Bayern. Psychische oder emotionale Belastungen im Kontext von problematischen Alkoholkonsum wurden nicht als behandelbare Erkrankungen erkannt, sondern eher als Charakterschwächen oder mangelnde Willenskraft eingeordnet. Bei nicht wenigen wertgeschätzen Mitbürger*innen in Bayern existiert die Haltung heute noch. Dass Mama als Besitzerin eines Lotto-Geschäfts und Tabakladen mit Miniaturschnapsflaschen unter dem Tresen einen täglichen Wahnsinn erleben musste, wurde mir erst in den letzten Monaten begreiflich, nachdem auch ich durch einen langen Leidensweg kultivierten Rotweingenusses triumphierte. Deshalb verstehe ich auch so gut, warum es bei vielen Menschen nicht reicht ab und an einmal etwas kritisches oder gesundheitsriskantes über Alkohol aufzuschnappen, während sie tag täglich in Deutschland in allen Kannälen mit ganz viel WIR, GLÜCK, ERFOLG und LEBENSFREUDE über gemeinsame Alkoholmomente betüddelt werden. Um zu begreifen, was Alkohol eigentlich ist, braucht es Penetranz unangenehmer Wahrheiten - vor allem wenn Mensch und Marke in einer Region mit der größten Brauereidichte der Welt ansässig ist. Ich verstehe die Skepsis, Angst und Vorbehalte gegenüber Alkoholverächterinnen wie mir wirklich und natürlich hatte ich selbst auch so viele wundervolle Momente mit Alkohol und mit wundervollen Menschen in meinem Leben. Aus diesem Grund ist mir auch mein Geschäftspartner Stefan beigesprungen, der u.a. eine weniger verächtliche Einstellung zu Bier bezieht als ich. Nur, um anderen besser zu gefallen, werde ich meine Authentizität nie mehr aufgeben. Und zu meiner heutigen Echtheit nach meinem persönlichen Reinheitsgebot bedeutet das für mein Privatleben: NULL ALKOHOL. Das GERTY NUSS Team hat darüber hinaus Hilfestellungen erarbeitet, die Menschen auch in einem Leben mit Suchtmitteln unterstützen möchte. Dazu kommen wir gleich. 

Letzter Gedanke zu Stigma und Kultur: Solange wir die Volksdroge Alkohol weiterhin kulturell verharmlosen und verherrlichen und problematischen Alkoholkonsum nur als menschlichen Kontrollverlust und nicht auch als Substanzimmanenten Wirkmechanismus verstehen, nehmen wir vielen suchtgefährdeten und suchterkrankten Menschen die Chance, sich ihrer Scham und Schuldgefühle zu entledigen, ihre Probleme zu erkennen und Hilfe suchen zu können. 

April 2024: Oma Leni (86), Mama von Gerti (†2013) und ihr Urenkel Anton (9) I Foto: Nicole Heupel 

Hätten wir als Familie eine Chance gehabt, wenn sich Gerti nicht von mir getrennt hätte als ich 11 Jahre alt war? 

UNFREIWILLIGE TRENNUNGEN HINTERLASSEN TIEFE VERLUST- UND VERSAGENSÄNGSTE 

Wir helfen Menschen, die privat oder beruflich mit substanzabhängigen Menschen und/oder mit Mitbetroffenen aus deren Umfeld zu tun haben, angemessene Problemlösungsstrategien und unterstützende Kommunikationskompetenzen so zu vermitteln, dass alle Beteiligten ihre eigenen Ressourcen selbstfürsorgend schützen können. Hilfe zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe statt Trennung als Standardempfehlung. Dabei bedienen wir uns u.a. an Impulsen anlehnend an das CRAFT Training ("Das Community Reinforcement Ansatz basierte Familientraining") für Angehörigenarbeit, welches von Dr. Gallus Bischof und Dr. Jennis Freyer-Adam für Deutschland übersetzt und wissenschaftlich weiter begleitet wird. 

MAMA UND ICH HATTEN KEINE HILFE UNSERE BEZIEHUNG ALS RESSOURCEN ZU ERKENNEN 

Diese Nuss liegt mir persönlich besonders schwer auf der Seele. Ich stelle mir oft vor, wie es gewesen wäre, hätte ich Anfang der 2000er meinen Kenntnisstand von heute gehabt. Ich glaube wirklich, wenn ich mit meinem heutigen Wissen damals auf Gerti hätte zugehen und meinen eigenen problemtischen Umgang mit Alkohol früher besser verstehen hätte können, am besten genau in den 7 Jahren als sie trocken war und ich gerade richtig trinkfest wurde, dann könnte sie heute noch leben. Sowohl meine persönlichen Analysen dazu als auch weitere Informationen zu CRAFT und unsere Leitfäden für Angehörige veröffentlichen wir zu einem späteren Zeitpunkt. Für diesen Tagebucheintrag war es mir erstmal wichtig, den Zusammenhang für die Stabilisierung in täglicher Konfrontationsarbeit mit herzustellen. 

In weniger Konfrontation und mehr Verständnis für einen wertschätzenden Umgang mit suchtbelasteten Familien auch während oder trotz eines Suchtmittelkonsums liegt meiner Ansicht nach auch viel ungehobenes Potential. Wie bei den meisten Fragen im Suchtumfeld gibt es keine absoluten Antworten und keine pauschalen Lösungen. Wie sagt man so schön? It depends... Ich habe persönlich das große Glück meine persönliche Erfüllung RECHTZEITIG in einem alkoholfreien Leben gefunden zu haben und ich bin für diese Lebensstrategie vom Glück geküsst, was meine Ressourcen um mich herum betrifft. 

Ob Gerti suchtfrei und ohne Suchtmittekonsum oder ohne Substitution noch leben würde oder wollte, da würde ich Stand heute noch ein großes Fragezeichen hinter setzen. ABER: ich bin sehr stark davon überzeugt, dass wir ihre Leberzirrhose als Todesursache hätten verhindern oder wenigstens um einige Jahre hinauszögern hätten können. Wäre sie dann noch mit einer medizinischen Substitution ggf. in einen weniger depressiven Zustand gekommen, hätte sie eventuell sogar noch freiwillig länger leben wollen und ihr Leben wieder als lebenswert annehmen können?

Und damit schließe ich meinen heutigen Tagebucheintrag. Meine Mama war mir nie so nah wie in den letzten 2 Jahren seitdem ich nicht mehr trinke. Ich weiß, dass ich sie mit GERTY NUSS nicht mehr lebendig machen kann, aber ich hoffe, dass unser Freigeist vielen suchtbelasteten Familien und Kindern in Zukunft noch helfen und ich mit meinem Projekt Frieden und Freiheit finden kann. 

Puh, das war eine lange Session, ich hoffe sie hat nicht nur mir, sondern auch Euch gut getan und inspiriert. 

Bis zum nächsten Mal - alles Liebe! 

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Wie viel Gerti steckt in Caro?

  • Blog Teaser: Mein Weg von Identifikation zur Selbstfindung

Caro's Welt

Ich habe meine Marke und die Hauptfigur in unseren Geschichten "GERTY" genannt, weil ich meiner Mama ihre Ehre und Würdigkeit post Mortem zurück geben möchte. Weil ich damit ein Zeichen setzen möchte für Menschen, die aufgrund von Alkoholproblemen oder einer Alkoholerkrankung sich selbst stigmatisieren oder von anderen Menschen missverstanden und diskreditiert werden.

GERTY NUSS möchte vielen Menschen eine Stimme geben, die sich bisher nicht trauen offen über Probleme mit Alkohol zu sprechen. Vor allem in Kreisen und Situationen, in denen Alkohol selbstverständlich dazu gehören. Wir möchten Mut machen und Impulse geben, um einfach im Alltag weniger Alkohol und mehr Liebe zuzulassen.

Gerti und ich haben uns viel Liebe und Lebenszeit verschenkt, weil wir uns aus Scham und Schuldgefühlen zu lange nicht geholfen haben. Zu viele Menschen sprechen ständig verharmlosend oder verherrlichend über Alkohol, zu wenige Menschen sprechen offen und ehrlich mit oder über Alkohol. Alkohol ist ein Zellgift und eine Droge, kein Genussmittel.

Wir möchten allen die mit diesem Gift kulturell oder institutionell verbunden sind deutlich machen, dass Alkohol Menschen schadet. Die Untaten und das Leid, welches mit Alkohol verursacht wird, hat nichts mit der Liebenswertigkeit des Menschen und wenig mit deren Charakter oder Willensstärke zu tun.

Vernachlässigen Mütter ihre Kinder, weil sie ein Alkoholproblem haben, sind sie nicht per se verantwortungslose Menschen.

Menschen, die kultiviert genussvoll trinken sind genauso wenig per se souveräner, charkterstärker oder verantwortungsvoll. Meiner Meinung nach vergeben sich Alkoholtrinkende mit jedem genüsslichen Alkoholmomente ihre echte Selbstwirksamkeit.

Niemand sollte sich in Deutschland wegen alkoholbedingter Problemen schämen müssen. Seid unterstützend mit Euch und anderen wenn der Griff zu alkoholischen Getränken häufiger erfolgt, als es einem lieb ist. Macht Euch selbst keine Vorwürfe und haltet Euch mit Schuldzuweisungen bei Menschen zurück, die alkoholbedingt chronisch oder schwer erkranken. Kein Mensch hat Schuld an irgendeiner Erkrankung. Alkohol hingegen schon.

Seitdem ich alkoholfrei lebe und an GERTY NUSS arbeite, verstehe ich immer besser, was mit mir als Kind und als trinkend Heranwachsende passiert ist. Ich verstehe, warum ich immer so sehr im "Außen" unterwegs war und warum ich in mir oft leer und taub bin. Das "Heldenkind" ist ruhelos und unsicher.

Meine Mama Gerti war wenig präsent und greifbar für mich. Nicht nur wenn sie trank. Auch sie stammt aus einem suchtbelasteten Trennungshaushalt aus den 1960ern. Sie war generell sehr auf die Themen anderer fokussiert, sehr hilfsbereit bis aufopfernd für andere Menschen. Für mich konnte sie die Energie nie aufbringen. Irgendwann ließ ich sie das auch nicht mehr tun. Und ich glaube sie fühlte sich weniger wert als ich und als wir beide Erwachsen waren und sie spürte, dass ich sie als Mama nicht ernst oder als Vorbild sehen konnte oder wollte, nahm sie sich auch einfach zurück und war froh wenn wir alle paar Monate mal kurz telefonieren konnten.

Je älter ich wurde und je besser es mir ging, desto häufiger sagte ich ihr, dass sie sich keine Vorwürfe machen solle. Das kam aber nie bei ihr an. Wenn man mal ein negatives Selbstbild von sich aufgebaut hat, gedanklich, ist es verdammt schwer sich selbst anders wahrzunehmen oder zu spüren. Vor allem weil sie ja auf der einen Seite ihren ständigen Suchtdruck spürte und auf der anderen Seite auch aus der Ferne mitbekam, dass auch ich gut dabei war beim Trinken. Sie besuchte mich als ich 2010 mit Pankreatitis im Krankenhaus war. Es war für uns beide eine skurrile Situation. Keine von uns beiden sprach Klartext. Beide fühlten wir uns unwohl und überfordert als wir uns sahen.

Insgeheim klopfe ich häufig in mir ab, wie viel von Gerti in mir steckt. Auch weil ich jahrzehntelang mit einem Vergleich zu meiner Mutter beleidigt werden sollte. "Du bist wie Deine Mutter" als Vorwurf formuliert zu erhalten ist aus verschiedenen Gründen schmerzhaft. Man spricht Dir ab eine eigenständige Identität zu sein und setzt den Menschen, der dich auf die Welt gebracht hat als Beleidigung ein.

In mir sind meine Erfahrungen als Kind von Gerti, die in mir Ängste auslösen. Vordergründig, verlassen oder nicht geliebt zu werden. Und die Angst, keine gute Mutter sein zu können. Ich denke so oft nach, dass ich in vielen Situationen das Gefühl für mich und ein Gespür für mein Umfeld verliere, unsicher werde, mich in einer Spirale an angstgesteuerten Gedanken befinde.

Dabei mache ich wohl einiges richtig, intuitiv.

"Ich bin ich und ich bin gut so wie ich bin."

Das muss ich mir oft sagen und es kommt noch nicht tief genug an wenn "nur ich" das zu mir sage. Anerkennung von außen ist mir nach wie vor wichtig, wie vielen Menschen. Wir sind alle soziale Wesen und benötigen Wertschätzung.

Ich bin liebevoll und umsichtig mit meinen Jungs. Ich bin genauso wie andere Eltern auch mal ungehalten und motzig, abgelenkt, gestresst, genervt und alles was zum Eltern sein dazu gehört.

Ich bin genauso normal und anormal wie jeder andere Mensch auch. Ich bin Caro, die Mama meiner Kinder und Caro, die Tochter von Gerti. Für beides bin ich dankbar und auf beides bin ich stolz.

Gerti und Caro verbindet ein grenzenloser Idealismus, Begeisterungsfähigkeit und Hartnäckigkeit.

Danke Gerti, für Dein Erbe.

Ich durfte heute wieder ein wertschätzendes Interview für YouTube führen, habe einen Auftrag erhalten und war bei einer sehr unterstützenden Traumabehandlung. Ich tue weiterhin alles was in meiner Macht steht, um für meine Jungs und mich gesund zu bleiben und Kindern in Deutschland einen alkoholfreien Alltag zu ermöglichen... und es erfüllt uns alle.

DANKE 2023 - was für ein intensives Jahr trotz oder wegen der belastenden Weltsituation und dem Leid vieler Kinder, das zu unseren Themen ein wirkliches Problem darstellt, möchte ich dafür umso dankbarer sein und weiter dabei helfen unsere Welt jeden Tag ein Stückchen stärker zu machen.

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Wie viel Gewohnheitstier steckt in Dir?

  • Blog Teaser: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Nur nicht bei Alkohol. Da sind wir Genussmenschen.

Caro's Welt

Mein Privatleben erschien mir oft wie ein dunkler Schatten. Wenn ich selbst hell genug strahle, sieht kein Mensch, was sich hinter mir eigentlich verbirgt. In Vertrauenskonstellationen konnte ich schon ein grobes sachliches Bild skizzieren, welches allerdings nie meiner echten Wirklichkeit entsprach.

Hätte ich im Detail beschrieben und erklärt, was ich privat miterlebe oder miterlebt hatte, dann hätte das meine Ansprechpersonen zu sehr erschüttert, verwundert, irritiert oder mich beschämt.

Und so verdrängte oder ertrank ich meine Erlebnisse mit Arbeit oder in Rotwein oder anderen alkoholischen Getränken und Suchtmitteln oder suchte nach emotionaler Wärme im World Wide Web.

Wir gewöhnen uns daran zu leben und zu leiden. 

„DER MENSCH IST EIN GEWOHNHEITSTIER.“

Rückblickend meine ich fiel der Satz in meinem Umfeld immer dann, wenn sonst keine konstruktive Antwort mehr zu finden war.

„Rüdiger weiß, dass er kein süßes Gebäck essen darf, und doch erwische ich ihn immer wieder mit Puderzucker im Schnauzbart“,

stigmatisiert eine Angehörige eines chronisch erkrankten Typ2-Diabetes Patienten.

Mein Opa Hans hatte immer süße Eierplätzchen, die es in den großen durchsichtigen Plastiktüten gab, in seiner Brusttasche wenn wir zusammen auf Wochenendausflügen unterwegs waren. Immer wenn ich mich im Auto an seine Schulter anlehnte, roch ich die Plätzchen und den Eukalyptus seiner Bonbons.

 Zu den beobachtbaren Verhaltensweisen in meinem Umfeld passte die Gewohnheitstier-Aussage meistens ziemlich gut. Diese Art von Gesprächen führen wir in unseren Leben oft stunden- oder tagelang (würden wir die Redezeit aneinander rechnen).

Wenn du gerade denkst „oder auch wochen- und monatelang“, dann weiß ich, dass du die so lapidar daherkommenden emotionalen Belastungen und Stressgefühle in dysfunktionalen Systemen gut kennst oder nachvollziehen kannst.

Vor allem die manipulierende oder bagatellisierende Kommunikation rund um gesundheitsschädigendes oder emotional verletzendes Verhalten von Menschen in verantwortungsvollen Rollen wird euch in diesem Kontext ein Begriff sein, mutmaße ich.

 

Bei chronisch erkrankten Menschen, die an einer Alkoholabhängigkeit litten, waren die Antworten in Alltagsgesprächen anders. Entweder war es betretenes Schweigen, Ignorieren oder Augenrollen und äffendes Verhalten hinter dem Rücken der betroffenen Personen. War das Konsumverhalten oder die beobachtbaren Folgeerscheinungen meiner Mutter beobachtbar, hatte sie sich laut Aussagen anderer Menschen mal wieder nicht im Griff. Dann war sie wieder schwach. Dann kam ihr verdorbener Charakter wieder in ihr durch. Der Fluch, den sie von einem Elternteil vermeintlich noch geerbt hatte.

Es war der Teufel in ihr“, dachten so manche Mitmenschen früher über Frauen, die psychisch erkrankten.

„Wenn sie trank, war sie ein anderer Mensch“, weiß ich über mich und viele weitere Frauen mit viel Verantwortung und Alkoholproblemen.

Im Fall von Alkohol kommen wir lieber nicht so früh auf ein Gewohnheitstier zu sprechen. Das Tierchen kommt bei uns im Gegensatz zu den anderen nur zu besonderen Momenten oder nach besonderen Leistungen.

Sonst müssten wir ja viel stärker darüber nachdenken, dass Alkoholtrinken unabhängig vom Charakter eine Gefahr für uns alle darstellt.

Steckt in Dir ein Gewohnheitstier

- dann sei regelmäßig #alkoholfrei gut zu Dir.

Happy Weekend 🫶

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Wieso es Krisen braucht, um persönliche Freiheiten zu erreichen

  • Blog Teaser: Unser SELBST als gedankliches Navigationssystem zu einem sinnstiftenden Leben

Caro's Welt

FREMDBESTIMMT IN ALLEN ROLLEN, WAR DER RAUSCH MEINE EINZIG FREIE SELBSTBESTIMMTE "AREA" 

... zumindest gaukelte mir das meine Droge, die sich wie ein falscher Freund in mein Leben hinein manipulierte, immer dann vor, wenn ich keine Kraft mehr hatte und mich einfach nur liebenswert fühlen und meine belastenden und beunruhigenden Gedanken abschalten wollte... 

Als ich Christoph am 6. August 2020 kennenlernte, hatte ich zwei Tage vorher einen unerwarteten emotionalen Absturz. Wir waren am Höllensteinsee im Bayerischen Wald, was auch gerne Bayerisch Kanada genannt wird. Der Campingplatz ein traumhaftes Fleckchen für meine Jungs (damals 5 und 4 Jahre alt), unsere Freunde, unser selbst organisiertes Wohnmobil und mich. Oder zumindest das, was von mir übrig geblieben ist. Da war nicht mehr viel von der Caro, die ich von früher kannte und noch nicht viel von der Caro, wie ich sie heute kennenlerne. Ja, auch ich finde Menschen seltsam, die in der dritten Person von sich sprechen, also zurück zu meinem ICH. Vermutlich möchte ich am liebsten in die Perspektive einer dritten Person springen, da ich für diese Erinnerungen nach wie vor lieber eine gewisse Distanz zu mir einnehmen möchte.

Jedenfalls war damals überhaupt sehr wenig von meinem SELBST vorhanden. Dafür war da viel Rotwein. Mein Lebenselixier in dieser Zeit. In der Woche zuvor, als ich noch gar nicht wusste, dass ich mich auf diesen Spontantripp einlassen sollte, schaffte ich mal wieder eine Woche Abstinenz von Nikotin und einen gemäßigten kontrollierten Weingenuss wie ihn der Deutsche Werberat auch gerne als verantwortungsvolles Verhalten einstufen möchte. Kurz vor Stefans und Christophs Ankunft am Höllensteinsee stürzte ich abends dermaßen mit meinen Freunden ab, nachdem mich am selben Tag drei Nachrichten ereilten mit denen ich nicht gerechnet hatte. Drei Vertrauensbrüche an einem Tag in drei verschiedenen Rollen. Mein Leben sollte seinen Zenit an Absurditäten bis zu dieser Woche noch nicht erreicht haben, aber das Maß war für die Phase mal wieder mehr als voll. Und ich auch. Eigentlich wähnte ich mich dort im Urlaub sicher, aber meine mobile Erreichbarkeit setzte mir dennoch zu. 

Alkohol ist wie ein falscher Freund, der Dich so manipuliert, dass Du meinst ihn zu brauchen 

Details tun hier nichts zur Sache. Was ich Euch aber vermitteln möchte, damit ihr durch meine Geschichte die Fallstricke in suchtbelasteten Familien und sozialen Systemen besser verstehen könnt ist Folgendes: Mein Weg von einem kultivierten Trinken, über ein problematisches Trinkverhalten zu einer Alkoholsucht war von einer andauernden multifaktorellen Krise und hohen Leidensdruck gekennzeichnet, die ich vornehmlich vielen externen Faktoren in meinem damaligen Leben zuschrieb. Da ich mit familiären Krisen groß geworden bin, habe ich eine gewisse Resilienz entwickelt, um sehr viel einstecken und wieder aufstehen und weiter laufen zu können. Auch beruflich wurde ich so konditioniert. Den Großteil meiner Berufszeit steckte ich in Pitches, Strategiemeetings oder Restrukturierungskonstrukten. Krise war irgendwie auch meine Stärke ohne dass ich das wollte. Darauf komme ich nochmal an einer anderen Stelle zurück. Bis ich mich aus meinem selbstvernichtenden Denksystem herauslösen konnte, dauerte meine Krise, und damit auch meine sozial gerechtfertigte "krasse = völlig nachvollziehbar von Alkohol begleitete Phase plus Pandemie Relativierung" Jahre. Heute definiere ich den Zeitraum von 2018 bis 2022. 

"ALKIS MUSS MAN FALLEN LASSEN, SONST KÖNNEN SIE NICHT HEILEN" 

Ich möchte gar nicht wissen, wie viele alkoholerkrankte Menschen und Familien diese Leidenswege gehen mussten und heute noch gehen. Ich weiß heute nicht, ob Alkoholerkrankungen heilbar sind. Was ich aber weiß: Fallen gelassen wird man auch als kultivierte Trinkerin und heilen kann man auch als Alki wenn man aufgefangen wird...

Zu der Zeit als Gertis Alkoholerkrankung mich und unsere Familie stark belastete, in den 1980er und 1990er Jahren waren Alkoholprobleme in meinem sozialen Umfeld und in der Öffentlichkeit völlig tabuisiert. Aktive Hilfestellungen oder ein offener Umgang waren nirgends zu finden. Ich erinnere mich, dass wenn ich bis 2022 mit betroffenen Angehörigen über andere Menschen mit Alkoholproblemen sprach, diese meistens die Empfehlung erhielten, alkoholerkrankte Menschen (sog. "Alkis" oder "Alkoholiker*innen") müsse man komplett fallen lassen und isoliert ihrem eigenen Schicksal überlassen, damit sie eine Krankheitseinsicht erlangen und darüber in die Lage kommen, sich helfen zu wollen. Das ist hart. Und erscheint vermutlich in vielen Fällen den Betroffenen als einzig fruchtbare Strategie. Dennoch ist es eine furchtbare Vorstellung. Meine Mama Gerti verinnerlichte diese Sichtweise auf sich und ihr Leben par excellence. Sie trank sich heimlich zu Tode. Sie wollte niemandem zur Last fallen und ich meine in ihrem Haus, das ihren letzten Leidensweg stark zeichnete, abgelesen zu haben, dass sie mit ihrer Alkoholerkrankung nicht mehr leben wollte.  

Ich bin zwar auch tief gefallen bis ich meine Alkoholerkrankung einsehen konnte, aber mein Zustand ist kaum mit dem meiner Mama zu vergleichen. Ich konnte durch meine Erfahrungen mit ihr wesentlich früher die Anzeichen meiner beginnenden Sucht begreifen und aufgrund meiner Erfahrungen als Kind, meine Kinder vor meinen Traumatas bewahren. Der Wendepunkt für meine Einsicht war kein Zenit einer katastrophalen Aneinanderreihung von alkoholisierten Exzessen oder eine tragische Schlüsselsituation mit einem Verlust meines sozialen Umfelds.

KEINE ISOLATION, SONDERN MEINE RESSOURCEN HALFEN MIR AUS MEINER ALKOHOLABHÄNGIGKEIT 

Es war eher ein günstiges Zusammenspiel aus internen und externen Ressourcen, meine Sehnsucht nach emotionaler Unabhängigkeit und meine Vorstellung einer Mama, die ich auch gerne gehabt hätte. Als ich das erste Mal schwanger war, versprach ich meinem Bauch, dass ich eine selbstbestimmte und emotional unabhängige Mama für meine Kinder sein werde. Ich spürte, dass irgendwas in mir nicht richtig programmiert war, aber ich konnte es außer einem Willen damals noch nicht in einen konkreten Gedanken bringen oder gar als Bedürfnis formulieren. Heute weiß ich: ich wollte meine persönliche Freiheit erlangen und mich aus den Altlasten meiner Tochterrolle und den damit verbundenen Denk-, Verhaltens- und Beziehungsmustern lösen.

Bevor ich mir meine Alkoholabhängigkeit eingestehen konnte, durchlief ich erstmal einen anderen elementaren Erkenntnisprozess mit Hilfe meiner Therapeutin, die heute eine Partnerin und Freundin geworden ist, Janet Goede. Im September 2021 wandte ich mich an sie mit der Fragestellung "Können Sie mir helfen emotional unabhängig von toxischen Bezugs- und Fürsorgepersonen in meinem Leben zu werden?" 

Ähnlich wie vor meiner Alkoholabstinenzerfahrung, war mir im Vorfeld meiner emotionalen Unabhängigkeit völlig unklar, wie das zu schaffen sei und ich hatte keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlen könnte. Janet half mir mit verschiedenen Werkzeugen meinen SELBSTWERT erstmalig zu begreifen (Hirn), mich lieben zu lernen (Herz) und mir selbst und meiner Intuition zu vertrauen (Bauch). Somit arbeite ich nun seit knapp drei Jahren daran, wie ich meinen Selbstwert, meine Selbstliebe und mein Selbstvertrauen unabhängig und aus mir selbst heraus stärken kann, nachdem ich von 1983-2021 meine Selbstwahrnehmung und Zufriedenheit im ständigen Status- und Anpassungssystem von der Bewertung und Anerkennung anderer Menschen abhängig gemacht habe. Es ist so krass, das zu begreifen, zu verarbeiten und mit dieser Erkenntnis neu umgehen und leben zu lernen. 

 MENSCHEN MIT ALKOHOLPROBLEMEN FEHLT EINFACH WILLENSKRAFT 

Das ist eine weitere Annahme, die ich nicht belegen kann. Mir fehlte es nie an Willenskraft, wenn ich etwas wollte ;-) Nein, im Ernst. Für unser SELBST und unseren WILLEN bedarf es einer differenzierten Betrachtungsweise. Es geht bei der persönlichen Freiheit und Unabhängigkeit von externen Belohnungssystemen um dieWillenskompetenz, sich kontinuierlich mit sich selbst, anstatt sich mit dem Willen anderer auseinandersetzen zukönnen. Ich konnte das lange nicht, weil mir der Zugang zu meiner Authentizität aus verschiedenen Gründen und Entwicklungen in meinem Leben nicht möglich war. 

Die meisten Hindernisse des SELBST liegen deshalb in der Kindheit, weil diese Zeit besonders prägend ist. Viele negative Einstellungen uns selbst gegenüber haben ihren Ursprung in der Kindheit und wirken bis heute nach. Vernachlässigung in den ersten drei Lebensjahren haben wir nicht präsent (infantile Amnesie), aber sie wirken sich auf unser Hippocampus-Areale langfristig aus. Extreme psychische Belastungen in der Kindheit scheinen das System zu überfordern und dauerhaft zu schädigen. Der verkleinerte Hippocampus kann später auf weitere, weniger schlimme Ereignisse nicht mehr richtig reagieren. Das macht die Betroffenen, also u.a. mich empfindlicher für Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und  Suchterkrankungen. 

Eines der stärksten menschlichen Bedürfnisse ist der Wunsch nach Zugehörigkeit. Um Zuneigung und Anerkennung aus unserer Umgebung zu erhalten, müssen wir uns anpassen. Immer wenn es uns gelingt, uns so zu verhalten, dass wir eine Belohnung erhalten oder eine Strafe vermeiden, kommt es in unserem Gehirn zur Ausschüttung von Botenstoffen, die neuronale Verknüpfungen und synaptische Verschaltungen aktivieren. So lernen wir was akzeptabel ist und was nicht. Unser SELBST wird von Vorstellungen und Meinungen unserer Umgebung geformt. In meinem Fall war dieser Mechanismus sehr ausgeprägt und je fordernder mein Leben und meine Abhängigkeiten (vor allem durch meine Verantwortung als Mutter) wurden, desto unreflektierter bediente ich den Willen und die Vorstellung anderer Menschen ohne meine damit verbundenen Ressourcen mit meinen eigentlichen Bedürfnissen abgleichen zu können. Ich befand mich einen zu langen Zeitraum in einem zu komplexen interdependenten Abhängigkeitssystem mit chronischer Überbelastung und innerer Zerrissenheit mit seelischer Daueranspannung aus Über- und Unterforderung, so dass ich den emotionalen Stress für mich nicht mehr mal eben einfach so auflösen konnte.

Also trank ich regelmäßig, um den Wahnsinn ausblenden zu können.Je mehr ich trank, desto weniger vetraute ich mir. Je mehr ich trank, desto schlechter ging es mir. Je mehr ich trank, desto stärker verachtete ich mich. Je mehr ich mich verachtete, desto diskriminierender wurde mein innerer Dialog, desto unsicherer wurde ich und meine Kommunikation im Außen. Je mehr ich trank, desto weniger wert war ich es mir für mich einzustehen und meine Rechte einzufordern. Je mehr ich trank, desto mehr schämte ich mich. Eine alkoholsüchtige Mama war für mich wie eine Komplettkapitulation meines SELBST. 

In meiner letzten Trinkphase, als ich bemerkte, dass ich die Kompetenz verlor kontrolliert zu trinken, als also die Suchterkrankung begann und eine emotionale Abhängigkeit schon stark ausgeprägt war, da würde ich sagen war meine Willenskraft tatsächlich sehr eingeschränkt. Da begann ich aber auch langsam in mir zu spüren, dass meine bisherige Alkoholiker*innen-Positionierung, wie ich sie die Jahre zuvor nach zwei Flaschen Wein im vertrauten Kreis auch mal durchsickern ließ, nicht mehr lange zu halten war. "Mama schüttete sich morgens Schnaps rein, sie war richtig alkoholkrank. Ich bin nur eine Alkoholikerin wie ja irgendwie ganz viele in Deutschland, ist ja auch irgendwie normal für meine Phase und dafür, was ich alles aushalten muss..." Diese Positionierung schien für die meisten um mich auch nachvollziehbar.

In meiner letzten Trinkphase änderte ich aber auch heimlich die Spielregeln. Ich begann heimlich zu trinken und sprach nicht mehr so offenherzig über meine Mengenkompetenz. Ich begann wieder hinzufallen, wie damals in der Jugend. Ich war dafür bekannt, dass ich irgendwann einfach auf dem Boden lag.

Und wann habe ich dann wieso endgültig aufgehört Alkohol zu trinken?  

"Weil ich nicht einfach fallen gelassen wurde"

Weil ich Ressourcen in mir und um mich hatte. Meine stärkste Ressource: die Liebe zu meinen Kindern, meine Kernfamilie und Freundeskreis. Es war nicht einfach damals und trotz meiner starken Ressourcen war ich in einem Spannungsfeld mit toxischen manipulativen Bezugspersonen, deren negative Agitationen und Einflüsse ich lange nicht unter Kontrolle bekommen konnte. Daneben waren zum Glück Lebensfreund*innen, die mir die Möglichkeit gaben, mich selbst positiv in allen meinen Rollen wahrnehmen und meine Selbstwirksamkeit Stück für Stück zurückgewinnen zu können. Nun stellt Euch mal vor, die hätten mich auch fallen gelassen oder isoliert? Stattdessen konnte ich mich mit ihrer Hilfe als Mama weiter stabilisieren, als kreative Strategin agieren und sie halfen mir, mich stigmafrei meiner Alkoholerkrankung annähern zu können. Mit Christoph lernte ich, dass Liebe nichts mit emotionaler Abhängigkeit zu tun haben muss und durch Stefan erlebte ich, dass Freundschaft bedeutet diese auch "all in" zu setzen, wenn sich Freund*innen durch Drogen selbst zu zerstören beginnen. Mit beiden in ihren jeweiligen Rollen für meine Familie und GERTY NUSS kann ich bis heute erleben, dass gegenseitige Abgrenzung für ein eigenes SELBST und ein anderes SELBST zu stabilen vertrauensvollen Beziehungen führen kann. Und dann kam auch noch Nathalie Stüben im Juni 2022 im Internet ums Eck und hat mir geholfen endlich zu verstehen, was für eine Dreckssubstanz Alkohol eigentlich ist und mir den richtigen Impuls und Mut gegeben, ein alkoholfreies Leben zu wagen. 

Ich hatte bis 2022 wenig Vorstellung davon, wer ich eigentlich bin und was ich eigentlich alles (noch sein) kann. Meine gedankliche Navigation zu meinem Selbst bleibt wohl eine Lebensreise. Ein Abgleich was normal oder Wahnsinn ist in mir und um mich, wird mich wohl weiter begleiten. Aus meiner aktuellen Krise möchte ich mich weiter heraus navigieren. Der Krebsverdacht hat mich psychisch wieder weiter zurück geworfen als es mir lieb ist. Vermutlich hat aber auch das einen Sinn. Aktuell arbeite ich u.a. mit der Technik von T.D.A. Lingo daran, Auswirkungen negativer Erfahrungen mit meiner eigenen Vorstellungskraft aufzulösen. Wir können traumatische Erlebnisse verarbeiten, wenn wir die in der Vergangenheit konditionierten Reflexe, die vom Reptiliengehirn und damit verbundenen Emotionen vom limbischen System unter die Kontrolle des Stirnlappens bringen, in dem es die Amygdala in eine positive Richtung umschaltet. Klingt komplizierter als es ist. Ich konzentriere mich im Moment auf meine Therapiemaßnahmen und möchte diese Selbsterfahrungen auch Euch als Unterstützung dokumentiert zur Verfügung stellen. Das hilft mir und Euch zu genesen bzw. mental stabil durch den Alltag zu kommen. 

Andernfalls bleiben schmerzhafte Situation aus der Vergangenheit ungeklärt abgespeichert. Sobald ich in eine ähnliche Situation gerate oder ein Mensch wunde Punkt trifft, reagiere und fühle ich so wie damals. Diese emotionalen Reflexe sind leider sehr schwer zu steuern. Meistens reagiere ich mit Panik oder Flucht oder Kampf. Ich werde wieder ungewohnt gehemmt, wütend, traurig oder hilflos. Schlimmstenfalls bleibe ich in diesem Zustand verfangen, weil ich gedanklich ständig dorthin zurückkehre, wo ich eigentlich schon längst weg war. 

Wenn ich die Vergangenheit nicht loslassen und verzeihen kann, wird es schwer weiter frei an einem sinnstiftendem Leben zu arbeiten und für meine Kinder stabil zu bleiben. Das musste ich nun leider wieder schmerzlich erfahren. Ich muss also weiter verzeihen lernen oder damit leben lernen, dass ich ein verletzlicher Mensch bin und manch Schmerz einfach zu meinem Leben gehört. Bei manchen Situationen gelingt es mir besser als bei anderen Themen. Manche Menschen leben gar nicht mehr, andere sind einfach schwierig... 

 

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