Caro's Welt
Ich habe frei

ICH HABE FREI
Die Kinder sind unterwegs und mein Manuskriptentwurf liegt wieder auf einem weiteren Schreibtisch zur Prüfung.
Ich habe frei, und dennoch bin ich online. Nahezu täglich. Manchmal nur wenige Sekunden, manchmal viele Stunden.
Außer in den Ferien.
Bis dahin dürfen noch einige Vorträge und Workshops für September vorbereitet werden. In Summe bin ich positiv überrascht, wie gut ich meine Social Media Zeit im letzten halben Jahr immer wieder runterfahren konnte und wie vielseitig unsere Aktivitäten und Maßnahmen bisher wirken durften.
Als ich alkoholfrei wurde, kurbelte ich meine virtuelle öffentliche Präsenz zunächst an. Es gab Vieles zu erzählen, was anderen Menschen neue Blickwinkel öffnen konnte.
Ich bin stolz, wie viel ich schon aufarbeiten und niederschreiben konnte. Und ich bin voll mit vielen Erkenntnissen und Erfahrungswissen als Peer für transgenerationale Selbststigmatisierung bei Alkoholabhängigkeit in sozialen Systemen, dass ich gar nicht weiß wohin mit all meiner Erfahrung und meinem Wissen, dass sich in den letzten Jahren stark spezialisiert hat und täglich weiter wächst. Wir wachsen als Peers weiter mit unseren Aufgaben.
Auch gehört zu meiner persönlichen alkoholfreien Wahrheit, dass ich noch immer nicht wirklich so zufrieden und ruhend sein kann, wie ich es wollte.
Entweder habe ich wegen irgendeines politischen oder sozialen Themas unkontrollierbare Fremdeinwirkungen, alte Unsicherheiten, neue Konflikte oder zusätzlich ungeplanten Handlungsbedarf. Oder ich denke über Lösungen und Optimierungen nach. In allen Rollen und vordergründig in meiner Rolle als Mama.
Ich sollte jeden Tag meine Welt umarmen, dass ich das so intensiv und klar erleben darf. Und das mache ich auch sehr bewusst. Ich bin jeden Tag trotz aller Alltagsbelastungen und Irrationaliäten unserer multifaktorellen Krisen dankbar und demütig für mein privilegiertes Leben.
Mein alkoholfreies Leben ist ein Geschenk für uns alle und ich versuche davon so viel es geht abzugeben.
Vor wenigen Jahren sah es noch nicht danach aus, dass ich unser Heute so erleben könnte. Ich litt viele Jahre unter dsyfunktionalen Belastungen als mitbetroffene Tochter von Gerti und Enkelin von Leni, unter lange unbehandelten Traumafolgestörungen und einer immer wieder aufflammenden Alkoholkonsumstörung - und am meisten litt ich unter Stigma und meiner Selbststigmatisierung.
Als ich im Sommer 2022 alkoholfrei wurde, folgten nach meiner heute gut behandelten kPTBS in den darauf folgenden Jahren weitere Verdachtsdiagnosen, die wir bis heute glücklicher Weise umschiffen konnten. Für den Moment fühle ich mich pudelwohl und pumperl gsund.
Wenn ich allerdings an unsere Welt und Kinder denke, habe ich trotz meiner individuellen mentalen und emotionalen Stabilität, Demut und Dankbarkeit immer häufiger einen Wehmuts-Kloß im Hals hängen.
Gleichzeitig kann ich Attacken und akute Sorgen mittlerweile wirklich nicht nur gut wegstecken, sondern aktiv mit ihnen arbeiten und an ihnen weiter wachsen.
Mein Leben war von Geburt an ein Resilienz-Bootcamp.
Ich durfte besonders wieder in den letzten Wochen feststellen, dass ich vor nichts mehr richtig Angst habe - ich vor allem keine Angst mehr vorm Angst haben habe.
Am wenigsten Angst habe ich vor einem "schlechten Ruf" und nicht mal mehr vorm Sterben. Ich liebe mich mittlerweile selbst und passe auf mich und meine Familie auf.
Seitdem ich dieses Gefühl wieder stärker in mir trage, ins Vertrauen kam und mein Leben weiter selbst lebe, entscheide und handle, habe ich keine Angst mehr es los zu lassen. Ich glaube an eine unendliche Verbindung zu meinem Ich, mir selbst und meinen Kindern über das weltliche Leben hinaus.
Ich bin vermutlich gerade die stabilste private Version mit dem gesellschaftlich relevantesten Erfahrungswissen in mir und das treibt mich auch besonders in meiner Mutter-Rolle und als entstigmatisierende Präventionsfürsorgende automatisch positiv an.
Ich kann mich zur Ruhe bringen und nüchtern abschalten, aber ich weiß heute auch was das bedeutet im Gegensatz zu den Stressbewältigungsstrategien und emotionalen Regulierungshilfen, die ich sonst früher phasenweise exzessiv in meinem multifaktorell belasteten Leben nutzte.
Das Leben als Kind aus einer suchtbelasteten Familie (#COA, Child of Addict) hinterlässt Spuren, unabhängig davon, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Für mich als autobiografisch-arbeitende Peer und Kommunikationsberaterin für Fachkräfte, Mutter von Grundschulkindern, selbst Betroffene und Mitbetroffene von emotionalen Belastungen und Abhängigkeitserkrankungen ist mein Weg zur emotionalen Unabhängigkeit oft ein Kampf gegen scheinbar unsichtbare Dämonen – gegen soziale und gesellschaftliche Fehlverurteilung und Selbststigmatisierung bei chronisch verdeckter Alkoholabhängigkeit in unserer Gesellschaft.
Ich kenne die Anziehungskraft von Suchtmitteln aller Art: Handy, Zucker, Kaffee, Alkohol, Online-Spiele, Social Media und was uns noch so alles hilft, schnell Stress zu regulieren oder innerhalb weniger Sekunden negative Gedanken und Gefühle auszublenden.
Es ist so einfach - auch für für mich als ehemals alkoholabhängige Person, in diesen niederschwelligen Konsum- und Leistungswahnsinn einzutauchen – um kurzfristig in alter Gewohnheit schnell abzuschalten, um Zugehörigkeit zu finden, und um die eigene Unsicherheit zu kompensieren. Doch je mehr wir uns in grenzenlose Konsumwelten stürzen und mit der Messlatte anderer, die wir zu oft auf Sockel platzieren - extern betrachten, desto mehr verlieren wir uns selbst, unsere Innensicht und unser Naturell.
Für mich war es in den letzten Jahren eine permanente Herausforderung, bei all dem Druck in mir emotional stabil zu bleiben – als erwachsene Tochter, als mehr oder weniger alleinerziehende Mutter, als Fachkraft und als Mensch. Manchmal schmerzen all die negativen Stimmen und Vergleiche, obwohl ich mir sehr bewusst bin, wie viel Schmerz und Unsicherheit bei allen Menschen, die senden, selbst mitschwingen.
In meiner Recovery hat mir am meisten geholfen, mich selbst immer wieder ehrlich mit meinen eigenen negativen Gedanken und Gefühlen zu konfrontieren.
Mein Selbst-Eingeständnis, meinen eigenen Weg für meine Kinder mit allen Konsequenzen gehen zu müssen – verlangt mir viel ab und gibt mir gleichzeitig genau den Halt und die Kraft, die ich brauche.
Ich weiß heute, dass es ist okay, schwach zu sein, verletzlich zu sein und Fehler zu machen. Es ist sogar notwendig, um überhaupt erkennen und heilen zu können.
Jeder Enttäuschung ging eine Täuschung voraus.
Ich habe mittlerweile gelernt, dass echte emotionale Unabhängigkeit kein Zustand ist, den ich einmal erreiche und ab da für immer hält.
Es bleibt ein täglicher Prozess ein Lebensprozess.
Wir müssen täglich aktiv eine Entscheidung treffen, uns nicht in einen Vergleichs-Sog ziehen zu lassen, Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen, Grenzen setzen und uns selbst aktiv Selbstliebe und Mitgefühl zukommen lassen.
Ich teile meine Geschichte, weil ich weiß, wie stark man durch die Akzeptanz der eigenen Verletzlichkeit und Fehlhaftigkeit wachsen kann. Ich bin mutig, mich so offen zu zeigen, weil sich mein Leben seitdem das erste Mal nach mir selbst anfühlt.
Ich habe keine Angst mehr vor Ablehnung, deswegen kann ich so offenherzig anderen Menschen auf die Nerven gehen und manchmal auch zu Nahe treten. Ich störe, um Veränderung mit anzuschieben.
Mich Euch so offen zeigen zu können, ist Luxus, den ich bewusst an freien Tagen wie heute gerne mit Euch teile.
Ich habe frei, bin heute wieder ein Stückchen in mir freier als gestern - für mich und für Euch.
Genießt jede freie Zeit für Euch und Eure Kinder, die Ihr bekommen könnt!
Herzlich,
Eure Carolin